1. Kapitel (8)

Als sie in Florenz ankamen, wurden sie von den Bianchi freundlich empfangen. Charles de Valois hatte soeben Botschafter zur Regierung entsandt, um seine Vermittlung in dem Konflikt anzubieten, und am gleichen Tag versammelten sich die Ghibellinen, um über diesen hinterhältigen Vorschlag zu beraten. Man kann sich leicht vorstellen, daß sie mit ihren eigenen Angelegenheit beschäftigt waren und den Exilanten aus Lucca nicht so viel Aufmerksamkeit schenkten, wie sie es sonst getan hätten. Am nächsten Tag verließ Ruggieri Florenz.
Die Exilanten setzten ihren Weg nach Ancona fort. Das war der Geburtsort von Dianora und ihre Verwandten hießen sie herzlich willkommen. Aber es war eine Umstellung für Ruggieri. Er war an das tätige Leben eines Politikers gewöhnt und mußte sich nun mit der Rolle eines unbeachteten Menschen zufriedengeben, der nichts mit der Regierung zu tun hatte, unter der er lebte. Er hatte Rang und Reichtum gegen das öde Dasein eines ehrenwerten alten Mannes eingetauscht. Ruggieri war ein tapferer Mensch und da seine Tugenden nicht mehr gefordert waren, gab er sich geduldig. Seine größte Freude war die Erziehung seines Sohnes. Castruccio war ein gelehriger, lebhafter Junge, wagemutig und ohne einen Gedanken an die Folgen seines Tuns. Nur die Liebe zu seinen Eltern mäßigte ihn. Ruggieri bestärkte ihn in seiner Abenteuerlust, obwohl er oft die Befürchtungen seiner Frau teilte, wenn Castruccio an einem windigen Tag in einem kleinen Boot für schönes Wetter aufs Meer wollte, oder wenn er sich auf ein Pferd ohne Zügel und Sattel schwang und an der Spitze seiner Freunde in die Wälder ritt. Aber Ruggieri ließ sich seine Sorgen nicht anmerken und versuchte auch nie, den Ungestüm seines Sohnes zu dämpfen.
So wuchs Castruccio heran, lebhaft und rege und in dem festen Glauben daran, daß er immer davonkommen würde. Aber der Junge war nicht unvorsichtig. Er schien die Grenzen des Möglichen zu ahnen und machte seinen Freunden oft Vorwürfe wegen ihres Leichtsinns. Er zeigte, daß er klüger war, wenn er die gleichen Schwierigkeiten langsamer, dafür aber sicherer überwand. Ruggieri unterwies ihn in allem, was ein Ritter und Soldat können mußte. Der Umgang mit der Lanze, Bogenschießen und die nötigen Studien waren eine Freude für den Jungen. Er und seine Freunde taten so, als wäre ein Hof inmitten einer alten Mauer oder ein verfallener Turm Troja oder eine andere antike Stadt, und dann spielten sie Krieg und übten sich in den Taktiken, die ihre Lehrer ihnen früh nahebrachten.
Im ersten Jahr ihrer Verbannung starb Castruccios Mutter. Strapazen und Enttäuschung hatten ihren schwachen Körper ausgelaugt. Sie empfahl ihren Sohn seinem Vater und schloß dann in Frieden die Augen. Dieses Ereignis brachte Castruccio für lange Zeit aus dem Gleichgewicht und unterbrach seinen Alltag. Sein Vater, der seine Frau geliebt und in ihr eine Freundin gefunden hatte, der er alles anvertrauen konnte, betrauerte sie tief. Wenn Castruccio von einem Ausflug mit seinen Freunden zurückkam und seine Mutter nicht mehr vorfand, fing er manchmal an zu weinen. Sein Vater machte ihm keine Vorwürfe deswegen, denn er fürchtete, dann selbst vom Gefühl überwältigt zu werden, was seine Predigten unglaubwürdig machen würde.
Sein vielversprechender Sohn war ein großer Trost für Ruggieri und die väterliche Liebe – die stärkste aller Leidenschaften, aber oft auch die unglücklichste – war sein Sonnenstrahl in den finsteren Jahren des Exils und der Machtlosigkeit.
Aber ausgerechnet in dem Augenblick, in dem er besonders dankbar für seine Segnungen war, wurde seine Ruhe gestört. Eines Morgens war Castruccio verschwunden. Geblieben war nur eine verblüffende Nachricht an seinen Vater, in der er seine Pläne mitteilte:
„Verzeih mir, liebster Vater, ich werde in ein paar Tagen zurückkommen. Ich bin in Sicherheit, mach Dir also keine Sorgen um mich. Sei mir nicht böse, denn auch wenn ich mich selbst für meine Schwäche verabscheue, kann ich nicht widerstehen! Sei Dir sicher, daß Dein unwürdiger Sohn Dir in zwei Wochen zu Füßen liegen wird.
Castruccio.“
Das war 1304, als Castruccio vierzehn Jahre alt war. Ruggieri hoffte und vertraute darauf, daß er in Sicherheit war und bald sein Versprechen halten und nach Hause kommen würde, aber er wartete voll unsagbarer Sorge. Der Grund für Castruccios Flucht war seltsam und zeigte die Sitten der Zeit und des Landes, in denen sie lebten, und die Phantasie und den Charakter des Jungen.

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